DETLEV GLANERT IM INTERVIEW
Der Komponist führt uns an seinen Lieblingsort: das Café Einstein

Ich bin ein fleißiger Kaffeehaussitzer. Hier muss man viel Zeit zur Verfügung haben, genau wie in der Musik, dann kann man seine Seele in diese Zeit versenken. Ich mag die Vorstellung, im Café zu leben, so wie man das vor 100 Jahren machte: Zuhause schläft man, im Kaffeehaus lebt man. Manche haben sich ihre Post ans Kaffeehaus zustellen lassen und dem Wirt ihre Rente überwiesen. Der gab dann Taschengeld, nach dem er das Seinige abgezogen hatte.
Für mich ist das Stammhaus des Einstein in der Kurfürstenstraße das schönste Café Berlins. Ich verbinde es mit meiner Berliner Existenz. Ich zog 1987 nach Berlin, nach zwei Wochen entdeckte ich diesen Ort, Jahre lang hatte ich denselben Kellner. Egal in welchem Stadtteil ich wohne – ich komme immer wieder hier her, einmal im Monat und bestelle einen großen Braunen. Oder zwei. In all den Jahrzehnten bin ich nie unhöflich behandelt worden. Das ist ein Rekord!
Die Klangfarben des Einstein sind für mich Streicher mit Dämpfern, weiche Akkorde, Bassklarinette, Horn, Fagott. Vielleicht liegt das an der bräunlichen Täfelung und der gedämpften Lautstärke. Das Kaffeehaus ist der einzige Ort, an dem es viele Geräusche gibt und mir trotzdem Musik einfällt. Man ist gleichzeitig allein und unter Menschen. Ich beobachte sehr gern Leute, früher bin ich oft mit einem kleinen Büchlein hergekommen und habe Einfälle notiert. Wenn sich streiten zum Beispiel, dann schaue ich mir genau die Gesten an. Schon das ist Musik für mich.

Detlev Glanert hat für die Deutsche Oper eine neue Oper geschrieben, OCEANE
Detlev Glanert hat für die Deutsche Oper eine neue Oper geschrieben, OCEANE
Gerade habe ich für die Deutsche Oper Berlin OCEANE geschrieben, eine Oper nach Fontanes Novellenfragment „Oceane von Parceval“. Fontane wohnte ganz um die Ecke vom Einstein, in der Potsdamer Straße. Um 1880 hat er den Oceane-Stoff erfunden, also etwa zu der Zeit, als diese Villa erbaut wurde. Vielleicht ist er sogar hier vorbeispaziert?

Die Oceane ist eine moderne Melusine, Fontane war äußerst interessiert an diesen Figuren, die Probleme mit ihrer Umwelt hatten. Das lag vielleicht an seiner Tochter, die hyperintelligent war, aber sozial nicht kompatibel. Er fürchtete, sie könne sich etwas antun – und tragischerweise ist sie viel später, nach Fontanes Tod, tatsächlich durch Suizid gestorben. Fontanes Fragment hat nicht viel äußerliche Handlung, deshalb musste ich in die Figuren kriechen, um ihr Drama nach außen zu stülpen. Oceanes Leitklänge sind ein zerstörter D-Dur-Akkord und viele Spaltklänge, also nur hohe und niedrige Töne und in der Mitte nichts. Die Figur hat eine Unwucht – während bei ihrem Gegenspieler Martin von Dircksen in der Mitte alles voller Akkorde ist. Man kann hören, dass die beiden einfach nicht kompatibel sind.

In dem Stoff wetterleuchtet der clash of two cultures der deutschen Reichsgründung, die Fontane hasste. Er vertrat das bescheidene Preußen und verabscheute Bismarck und das junge, präpotente Deutschland mit seiner Großmannssucht und dem Auf-den-Putz-Hauen. Dies Prinzip verkörpert Martin von Dircksen, der Macher, der Agrargroßbetriebe aufbauen und heiraten will. Das ist Oceane fremd. Sie ist Fontanes Gegenkonzept zur technisierten Zeit. Sie liebt das Meer, ist eins mit der Natur, ist still und distanziert; andererseits tanzt sie wie wild, trinkt unmäßig viel Wasser, reißt sich die Kleider vom Leib. „Diese Frau benimmt sich nicht wie wir. Deswegen kann sie nicht eine der unseren sein“, sagt der Pastor im Stück: „Und mit sowas wollen Sie Kinder machen?“ Oceane ist eine leidenschaftliche Person, die aber das Gefühl der Liebe zu einem Menschen nicht kennt und furchtbar darunter leidet. „Denn auf Erden war mir nicht zu helfen“, sagt sie, „darum gehe ich jetzt.“ Wenn Oceane am Ende ins Meer geht, geht sie nach Hause.

© Libretto #8. Das Magazin der Deutschen Oper Berlin

FOTOS Paula Winkler, Bettina Stöß
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