THEODOR FONTANE
Zwischen Heringsdorf und Berlin

Theodor Fontane kannte Heringsdorf, den Schauplatz der neuen Oper Oceane, seit seiner Kindheit. Er bevölkerte ihn mit Figuren aus dem Berlin der Kaiserzeit. Porträtiert hat Fontane seine Zeitgenossen aus der Sicht des Außenseiters, der sich kostspielige Seebadaufenthalte nicht leisten konnte.
Seebrücke Heringsdorf
Seebrücke Heringsdorf
Einer der Lieblingsplätze Theodor Fontanes auf Usedom hieß Störtebeckers Kul. Das war ein Erdtrichter hinter den Dünen zwischen Swinemünde und Heringsdorf, wo der Legende nach einst der Seeräuber Klaus Störtebecker sein Lager aufgeschlagen haben soll. Ein zauberhafter Ort für die sommerlichen Piratenspiele des kleinen Theodor und seine Freunde: „Das gab mir ein ungeheures Hochgefühl, Störtebeker und ich. Was musste ich für ein Kerl sein!“ Oft lag der kleine Theodor auch einfach nur in Störtebekers Kul, schaute in die Wolken, hörte das Meer rauschen und träumte vor sich hin.

Fontanes Vater betrieb zwischen 1827 und 1832 eine Apotheke in Swinemünde, in diesen fünf glücklichen Kindheitsjahren hatte Fontane täglich das Meer vor Augen. Er lernte gut schwimmen und fuhr mit dem Boot vom Strand hinaus, um ungestört seine Spielzeugkanone abzuschießen. In den heißen Monaten lebten Sommergäste im Haus. „Das junge Weibervolk immer zu vergnügen, war mitunter etwas schwer“, erinnert sich Fontane. Bei gutem Wetter wurden die Gäste gern an den Strand bei Heringsdorf kutschiert, wo es damals noch keinen Landungssteg gab, keine Strandpromenade, keine Hotels, nur ein paar Fischerhütten.

Theodor Fontane, nach einem Gemälde von Hanns Fechner. Gemeinfrei, stammt aus einer Publikation von 1909.
Theodor Fontane, nach einem Gemälde von Hanns Fechner. Gemeinfrei, stammt aus einer Publikation von 1909.
Vom Spielplatz zum Romanschauplatz

Als Fontane Jahrzehnte später seinen Roman Effi Briest schrieb, musste er nicht lange recherchieren: Aus seinen Swinemünder Erinnerungen formte er das Provinznest Kessin, in dem sich die junge Effi nach ihrer Heirat mit einem ehrgeizigen Landrat langweilt. Und auch als er an dem Erzählfragment Oceane von Parceval schrieb, das in Heringsdorf angesiedelt ist, bewegte er sich auf vertrautem Gelände.

Das Personal, das sich da versammelt, stammt aus Berlin, wo Fontane seit 1833 mit kurzzeitigen Unterbrechungen lebte. Ausdrücklich als „Berlinerin“ mit kosmopolitischer Abstammung charakterisiert Fontane die Hauptfigur Oceane. Doktor Felgentreu ist ein „Privatdocent mit drei Zuhörern“ an der Berliner Universität. Als der junge Baron von Dircksen sich in Oceane verliebt, in der Kaiserzeit, ist Heringsdorf längst kein Fischernest mehr, sondern ein mondänes Seebad, ein Treffpunkt der Reichen und Schönen.

Ein Haus am Meer müsste man haben

Seine Kindheitserinnerungen an Usedom hatte Fontane 1863 während eines Sommeraufenthalts an die Ostsee aufgefrischt – und war enttäuscht, weil der Bädertourismus und der Ausbau Swinemündes für die Marine den Reiz „einer kleinen Schifferstadt mit Giebelhäusern“ schon stark gemindert hatte. Besser gefiel es ihm immer noch in Heringsdorf. Spontan hatte Fontane Lust, dort ein kleines Ferienhaus zu bauen und zu vermieten. Doch schon nach einer Woche langweilte er sich: „Ja, so schön das ist, man kann doch nicht immer bloß aufs Meer blicken.“ Außerdem hatte er sich erkältet: „Nur eines bleibt: die Luft, die dem ganzen alten body wie ein Balsam ist.“

Ehemaliges Krankenhaus Bethanien in Kreuzberg, jetzt Künstlerhaus, 2018.
Ehemaliges Krankenhaus Bethanien in Kreuzberg, jetzt Künstlerhaus, 2018.
Dass Fontane nicht wieder nach Heringsdorf zurückkehrte, hatte mit seinen notorischen Geldsorgen zu tun. Sich wochenlang in mondänen Strandhotels verwöhnen zu lassen, wie sie nach der Reichsgründung entlang der Küste entstanden, konnte er sich schlichtweg nicht leisten. Erst sieben Jahre nach dem Wiedersehen mit Heringsdorf kam Fontane wieder zu einer Sommerfrische an Ostsee, diesmal mit Ehefrau, zwei kleinen Kindern und Haushälterin. Man mietete in Warnemünde eine Ferienwohnung, in der die Familie sich kostensparend selber bekochte, statt teuer essen zu gehen. Und um sein Gewissen zu beruhigen, schleppte Fontane wie üblich einen großen Packen Manuskripte und Bücher vom heimischen Schreibtisch mit in den Urlaub. Die Arbeit musste auch in den Ferien weitergehen, darin unterschied sich Fontanes Arbeitssituation kaum von der heutiger freier Journalisten und Autoren.

Apothekerlehre statt Studium

Wie gerne hätte der Apothekersohn – wie Doktor Felgentreu - einen Abschluss auf einem Gymnasium gemacht und studiert! Stattdessen hatten die Eltern ihn nach Berlin auf die Gewerbeschule geschickt und mit 16 in eine Apothekerlehre gesteckt.
Apotheke im ehemaligen Krankenhaus Bethanien, wo Fontane 1848 arbeitete, 2018.
Apotheke im ehemaligen Krankenhaus Bethanien, wo Fontane 1848 arbeitete, 2018.
 Als er die Approbation zum „Apotheker erster Klasse“ endlich in der Tasche hatte, schmiss er den Beruf, um Schriftsteller zu werden. Ermutigt hatte ihn seine Zeit im Kreuzberger Bethanien-Krankenhaus, wo er während der 1848er Revolution zwei Diakonissen zu Apothekerinnen ausbildete und nebenbei reichlich Muße zum Schreiben hatte. In Bethanien ist bis heute die Krankenhausapotheke zu besichtigen und auch ein Haus für die Mitarbeiter, wo Fontane gewohnt hat. Alle anderen Berliner Wohnadressen sind ausgelöscht.

Der Weg bis zum gefragten Romanschriftsteller war steinig: Um sich und die Familie finanziell über Wasser zu halten, arbeitete Fontane die längste Zeit als Journalist und Sachbuchautor, berichtete als Korrespondent aus England, schrieb über seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg und über Preußens Kriege. Er war 57 Jahren alt, als endlich sein erster Roman Vor dem Sturm erschien. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter mit dem Romaneschreiben, eine ungewöhnliche literarische Karriere.

In den insgesamt etwa 55 Jahren, die Fontane in Berlin lebte, wuchs Berlin rasant zur Industriestadt, Hauptstadt und Millionenstadt heran. Mit seiner Familie wohnte Fontane zeitweise in neu errichteten Kreuzberger Mietkasernen, aus denen er wieder auszog, als sie trocken gewohnt waren und die Mieten heraufgesetzt wurden.
Fontanes letztes Wohnhaus in der Potsdamer Straße 135c wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Fontanes letztes Wohnhaus in der Potsdamer Straße 135c wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Er sah viele neue Stadtquartiere und Milieus entstehen, deren Personal er in seinen Romanen unter die Lupe nahm.

Arm, aber frei

Fontane selbst zählte zum intellektuellen Prekariat der Großstadt, einem Neubürgertum auf wackliger ökonomische Basis. In der Kultur- und Medienmetropole Berlin konnte er sich und die Familie mit (Viel-) Schreiberei immer gerade so über Wasser halten. Fontane zog diese prekäre Form der Freiheit freilich den Zwängen einer materiell abgesicherten Existenz vor, ja, er konnte wohl gar nicht anders. Als Freunde ihm eine sichere Lebensstellung und Altersversorgung als Sekretär der Akademie der Künste verschafften, schmiss Fontane diesen Job schon nach wenigen Monaten: Er könne kein „Rad in der großen Verwaltungsmaschinerie“ sein und brauche das vertraute Gefühl, „als etwas nicht ganz Alltägliches“ angesehen zu werden. Seine Ehefrau, die auf ein Ende der ewigen „Sechserwirtschaft“ gehofft hatte, war entsetzt.

Aus dieser immerzu gefährdeten Position heraus beobachtete und schilderte Fontane, was in den Milieus um ihn herum bröckelte und sich an Lebensformen neu bildete: Wie Adlige verarmten und sich dennoch an einen überkommenen Ehrenkodex klammerten. Wie fesche Offiziere mit Heimarbeiterinnen anbandelten und sich dann wegen einer guten Partie aus dem Staub machten. Wie junge Frauen aus den unteren Schichten ihr Leben in der Großstadt selbst in die Hand nahmen, sei es durch Selbstdisziplin, harte Arbeit oder Prostitution. Wie verzärtelte Damen aus der Oberschicht an starren Konventionen erstickten. Wie ein neureiches Bürgertum sich etablierte und dekorierte.

Grab Fontanes und seiner Frau Emilie auf dem Französischen Friedhof an der Liesenstraße, 2019.
Grab Fontanes und seiner Frau Emilie auf dem Französischen Friedhof an der Liesenstraße, 2019.
Alle Frauen haben eine Knacks

Fontane gelangen luzide Innenansichten einer Gesellschaft im Umbruch, mit Berlin als Brennpunkt. Fontane habe den modernen Roman für Deutschland erfunden, verwirklicht und auch gleich vollendet, schrieb der ein halbes Jahrhundert jüngere Fontane-Fan Heinrich Mann. Als erster habe „Fontane wahrgemacht, dass ein Roman das gültige, bleibende Dokument einer Gesellschaft, eines Zeitalters sein kann, dass er soziale Kenntnis gestalten und vermitteln, Leben und Gegenwart bewahren kann noch in einer sehr veränderten Zukunft, wo sagen, wir, das Berlin von einst nicht mehr besteht“.

In dieser Zukunft sind wir längst angekommen. Das macht es gerade Jüngeren schwer, die Radikalität und Modernität in Fontanes literarischen Gesellschaftsbildern sofort zu erkennen. Das gilt auch für seine Frauenfiguren, die „alle eine Knacks weghaben“, wie der Autor selber schrieb. Sie alle können nicht glücklich werden in den Rollen, die in der patriarchalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts für Frauen vorgesehen waren. Das gilt auch für Fontanes Oceane, die am Ende erkennt (oder glaubt sie es nur?), dass für ihre nixenhaft-bezaubernde Natur in der Menschenwelt kein Platz ist. Diese Berlinerin rettet sich aus der mondänen Gesellschaft, indem sie spurlos in den Wogen vor Usedom verschwindet.
Michael Bienert
FOTOS Archiv, Michael Bienert
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